1995

Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch?

Eliten im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne (1750-1850)

Antragsteller

Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt

English summary

Until well into the post-war period, in the German historical sciences it was mainly written about "the great men who shaped history". With the return of emigrated German historians from the United States after the Second World War, a paradigm shift gradually took place, in which social scientific approaches slowly gained more importance in the German historical sciences. In the 1960s a new view on history called the "Bielefelder Schule" emerged, whose proponents were committed to a social historiography and shed light on the historical experience of the broad masses. However, through this self-chosen distance to the history of the "great men", a group came to the margins of social-historical questions: the social elites. This deficit was investigated by a large collaborative project of the Institute for European History of the University of Mainz, headed by Professor Heinz Duchhardt. The project was supported for several years by the Gerda Henkel Foundation. We talked to Professor Duchhardt about the genesis, orientation and results of the research carried out.

Bis weit in die Nachkriegszeit hinein wurde in der deutschen Geschichtswissenschaft vornehmlich über „große Männer, die Geschichte prägten“ geschrieben. Mit der Rückkehr emigrierter deutscher Historiker aus den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg kam es allmählich zu einem Paradigmenwechsel, bei dem nach und nach sozialwissenschaftliche Ansätze in die deutsche Geschichtswissenschaft einsickerten. Daraus entstand in den 1960er Jahren die sogenannte „Bielefelder Schule“, die einer sozialgeschichtlichen beziehungsweise gesamtgesellschaftlichen Geschichtsschreibung verpflichtet war, bei der vor allem die breite Masse in den Blick genommen wurde. Durch diese selbst gewählte Distanz zur Geschichte der „großen Männer“ geriet jedoch eine Gruppe an den Rand sozialhistorischer Fragestellungen: die gesellschaftlichen Eliten. Diesem Defizit nahm sich ein großes Verbundprojekt des Instituts für Europäische Geschichte der Universität Mainz unter Leitung von Prof. Dr. Heinz Duchhardt an, das mehrjährig von der Gerda Henkel Stiftung unterstützt wurde. Wir sprachen mit Herrn Prof. Duchhardt über Genese, Ausrichtung und Ergebnisse der durchgeführten Forschungen.

Interview mit Prof. Dr. Heinz Duchhardt

Gerda Henkel Stiftung: Herr Professor Duchhardt, Sie haben in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einen Forscherverbund geleitet, der Eliten im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne untersucht hat. Können Sie kurz das Vorhaben und das zentrale Erkenntnisinteresse der Arbeiten skizzieren?

Prof. Duchhardt: Es ist eine die Forschung seit langem bewegende Frage, wie die etablierten Eliten – also ständische Eliten (Adel, Patriziat), Funktionseliten (Staatsdiener im weitesten Sinn), geistig-intellektuelle und kulturelle Eliten, Wirtschaftseliten – mit den Umbrüchen der Französischen Revolution, die und deren Ideen sich ja fast über ganz Europa ausbreiteten, zurande kamen: ob sie in Resignation verfielen ob des Wegbrechens ihrer gewohnten Ordnung, ob sie sich mit dem neuen System arrangierten, ob sie latente oder offene Obstruktion betrieben, um möglichst schnell zum vorrevolutionären Zustand zurückzukehren. Es geht um das Verhältnis bestimmter herausgehobener Sozialgruppen zu dem Modernisierungsschub, der in politisch-gesellschaftlicher, aber auch wirtschaftlicher („Industrielle Revolution“) und geistig-intellektueller Hinsicht über Europa hereinbrach und den Kontinent zu verändern suchte. Das „Eliten-Projekt“, wie es die Beteiligten kurz und bündig nannten, versuchte in einem vergleichend-europäischen Zugriff in Fallbeispielen, diesen verschiedenen Verhaltensmustern auf die Spur zu kommen und die Parameter des „Obenbleiben-Wollens“ und „Obenbleiben-Könnens“ gegenseitig zu gewichten. Das Spektrum der Themen reichte von Oberitalien und der Eidgenossenschaft, Spanien, Frankreich, den Niederlanden und Polen bis nach Deutschland, wo wiederum die ländlichen und die jüdischen Eliten ebenso wie die städtischen Eliten in den Mittelpunkt von einschlägigen Studien rückten, aber auch eine Arbeit zum Niederadel und eine weitere zu einer süddeutschen Fürstenfamilie gefördert wurde.

GHS: Wie kamen Sie in Kontakt mit der Gerda Henkel Stiftung? Welche Erfahrungen haben Sie in der Zusammenarbeit mit der Stiftung gemacht?

Prof. Duchhardt: Die Kontakte zur Gerda Henkel Stiftung wurden damals über Mitglieder von deren Wissenschaftlichem Beirat hergestellt. Es war – am Anfang meiner Tätigkeit am Institut für Europäische Geschichte – ein zügiges und unbürokratisches Bewilligungsverfahren, das mir, schon davor und später als Leiter etlicher anderer Forschergruppen, in der allerbesten Erinnerung geblieben ist. Dieser Zügigkeit am Beginn entsprach eine wohltuend unkomplizierte und immer an den Bedürfnissen des Projekts orientierte Zusammenarbeit mit der Düsseldorfer Geschäftsstelle, die sich ungemein positiv von dem Bürokratismus anderer Drittmittelgeber abhebt.

GHS: Welche spezifisch neue Perspektive lag dem Vorhaben zugrunde? Was haben Sie im Forschungsverbund unter dem Begriff „Elite“ verstanden und was haben Sie sich durch die Betrachtung von „Eliten“ in der Phase des Übergangs versprochen?

Prof„Es geht um das Verhältnis bestimmter herausgehobener Sozialgruppen zu dem Modernisierungsschub, der über Europa hereinbrach.“. Duchhardt: In meiner ersten Antwort habe ich zum Ansatz bereits einiges gesagt. Wir haben uns in der Forschergruppe - dem Begriff „Elite“ eignet ja seit jeher eine gewisse Unbestimmtheit - nach langen Debatten, dabei immer wieder auf Max Webers „klassische“ Eliten-Diskussion rekurrierend, für eine weite, eher pragmatische Umschreibung von „Eliten“ entschieden, um auch bäuerliche Funktionsträger oder Fernkaufleute, Mitglieder eines legendären Intellektuellen-Salons, Militärs und jüdische Funktionsträger nicht auszugrenzen. Eher überraschend spielten bei den Bewerbungen Gruppen, an die man bei dem Begriff „Eliten“ zunächst einmal denkt, also etwa der Adel oder die akademischen Milieus und universitären Lehrkörper, keine überragende oder gar überhaupt keine Rolle. Die Fragestellung gewann im Verlauf der Arbeit in der Forschergruppe gerade wegen der Vielzahl an sozialen Gruppen, die dem Elite-Begriff zugeordnet werden konnten, noch an Reiz: Wie veränderte die Revolution und die revolutionäre Neuordnung des Kontinents, auch wenn man ihnen anfangs sehr kritisch gegenüberstand, die Mentalitäten? Was bedeutete der Modernisierungsschub für Gruppen wie das Militär oder die jüdische Führungsschicht? War die Rückkehr zur alten Ordnung für irgendeine Gruppe 1815 noch eine Option? Der ganz in den ständischen Strukturen des Ancien Régime aufgewachsene Freiherr vom Stein, einer der erbittertsten Gegner der Auswüchse der Revolution und Napoleons, muss 1815 als ein veritabler Liberaler eingestuft werden.

GHS: Im Rahmen der Arbeiten sind zahlreiche Qualifikationsschriften entstanden, die das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet haben. Welche gemeinsamen Ergebnisse lassen sich ziehen? Sie haben insbesondere auch nach den Kontinuitäten und Brüchen in der Herausbildung und Zusammensetzung von Eliten gefragt. Was kann hinsichtlich dieser Fragen resümiert werden? 

Prof. Duchhardt: Grundsätzlich, dem eben Gesagten entsprechend, überwogen mentalitätsgeschichtlich die Brüche und sozialgeschichtlich die Kontinuitäten – Funktionsträger, deren Karrieren vor 1789 begonnen hatten, bleiben „irgendwie“ oben, ob mit Verbiegungen oder ohne – Talleyrand ist ein Musterbeispiel dafür, wie Funktionseliten die einzelnen Phasen von der vorrevolutionären Ordnung bis in den beginnenden Vormärz überstehen und immer „oben“ bleiben. Die französischen Émigrés gehen nach ihrer Exilzeit nach Frankreich zurück und übernehmen erneut Schlüsselpositionen, wobei ihre Memoiren zugleich aber illustrieren, dass ihr Weltbild nicht mehr mit dem von 1789 identisch war.

GHS: Die Unterstützung des Forschungsschwerpunktes war eines der größeren Vorhaben der Stiftung zu dieser Zeit. Welche besonderen Erfahrungen haben Sie bei der Leitung und Koordination einer solch umfangreichen Forschergruppe gemacht? Wo lagen Chancen oder Schwierigkeiten der Kooperation?

Prof. Duchhardt: Ich hatte zum Zeitpunkt des Anlaufens des „Eliten-Projekts“ schon einige Erfahrung mit der Leitung kleinerer Forschergruppen. Von der Dimension her übertraf das Henkel-Projekt aber alle damaligen Erfahrungen. Wichtig war, dass ich bei der Vielfalt der zur Förderung angenommenen Themen auf die Unterstützung von drei Mitarbeitern/innen rechnen konnte, die andere Forschungsschwerpunkte als ich selbst hatten und für die Mitbetreuung bestimmter Arbeiten besser als ich ausgewiesen waren. Sie haben auch überaus konstruktiv mitgewirkt, um die Eröffnungsveranstaltung im November 1996 zu organisieren, um in- und ausländische Experten zu Vorträgen oder Workshops nach Mainz zu holen und um die große Konferenz vorzubereiten, die am Ende des Projekts stand („Eliten um 1800“, Juni 1999)  und die die ganze „Elite“ der europäischen Eliteforscher versammelte. Ohne ihre Initiativen und Ideen wäre die Koordination einer so großen Nachwuchsgruppe, die ja parallel zur Leitung eines großen Instituts vor sich gehen musste, nur schwer vorstellbar gewesen. Der Erfolg des Projekts gründete aber auch darin, dass die Henkel-Stipendiaten voll in das soziale Leben des Instituts für Europäische Geschichte integriert waren und, z. T. sogar im dortigen Wohnheim lebend, den tagtäglichen Kontakt zu den Instituts-Stipendiaten hatten, Theologen und Historikern, die ihrerseits zu den Spitzen des wissenschaftlichen Nachwuchses zählten und zählen. Die ständige Kommunikation mit den Haus-Stipendiaten hat einige Arbeiten zusätzlich gefördert.

Das Modell des Henkel-Projekts – Sitzungen mit Werkstattberichten aller Beteiligten einmal monatlich, viele Einladungen an auswärtige Experten, eine große Schlusskonferenz, die auch dokumentiert wurde und neben einer eigenen Broschüre eine Art Summe des Henkel-Projekts zieht – konnte mutatis mutandis dann auch auf andere große Förderprojekte übertragen werden, etwa ein Graduiertenkolleg, das ich als Sprecher seit 2009 leitete.

Historische Elitenforschung – eine Trendwende in der Geschichtswissenschaft?

Projektinformationen

Projekttitel Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? Eliten im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne (1750-1850)
Antragsteller   

Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt

Institution Leibniz-Institut für Europäische Geschichte
Fachbereich Geschichte

Karte

Projektort
   
Projektleitung
Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt

Titelbild: Wohnhaus eines landwirtschaftlichen Anwesens in Westhofen/Rheinhessen, das 1750-1754 von der Familie Orb errichtet wurde. Beispiel für die Lebensverhältnisse einer rheinhessischen, der bäuerlichen Oberschicht angehörenden Familie

[Bildquelle:

Rainer Reith, Oberkirchen

]

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