2004

Anweisungen für den Weltanschauungskrieger

Der Kommissarbefehl – Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42

Stipendiat

Dr. Felix Römer

English summary

The so-called "Kommissarbefehl" (Commissar Order) is one of the most well-known and best documented criminal orders of the Third Reich. Nevertheless, there had been a long-lasting controversy about its concrete implementation. Earlier historical research only concentrated on studies of singular military units. Therefore, it was not possible to prove how the majority of the German soldiers carried out the command. However, it was only after the systematic evaluation of all accessible sources by Dr. Felix Römer, that reliable knowledge about the ways of how the German army passed on and executed the order is now available. We have interviewed Dr. Römer about his research and his results.

Als am 22. Juni 1941 mehr als drei Millionen Soldaten des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten die Grenzen der Sowjetunion überschritten, hatten sie genaue Vorgaben zur Art und Weise der Kriegsführung im Gepäck: bewusst sollten die völkerrechtlich bindenden Grenzen überschritten werden. Einer der schwerwiegendsten Befehle waren die „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“ vom 6. Juni 1941 – die im allgemeinen Sprachgebrauch als „Kommissarbefehl“ bekannt geworden sind. Diese Richtlinien forderten von den deutschen Heereseinheiten, die Politischen Kommissare der Roten Armee – mit wenigen Ausnahmen – unmittelbar zu liquidieren.

Der Kommissarbefehl gilt heute als einer der am besten dokumentierten verbrecherischen Befehle des Dritten Reichs. In mehrerer Hinsicht kommt ihm eine besondere Bedeutung zu: im Gegensatz etwa zu den unterschiedlichen Anweisungen, die zur Vernichtung des europäischen Judentums führten, wurde er in klarer Sprache und ohne euphemistische Verklausulierungen formuliert. Der Befehl wurde schriftlich verfasst. Er ging nachweislich den Ermordungen voraus: die Taten waren also von oben befohlen und gingen keinesfalls auf Radikalisierungsprozesse im Verlauf des Krieges zurück. Zudem ist auch die unmittelbare Verantwortlichkeit Adolf Hitlers für den Befehl unumstritten.

Trotz der Eindeutigkeit des Erlasses und seiner tausendfachen Durchführung wurde die Wirkmächtigkeit des Befehls lange angezweifelt. Da die Forschung seine Implementation nur in stichprobenartigen Untersuchungen belegt hatte, konnte sie den Argumenten, nach denen die Durchführung des Befehls in der Kriegswirklichkeit von den Truppen mehrheitlich abgelehnt worden ist, nur wenig entgegensetzen. In seiner Studie, deren Entstehung in den Jahren 2004 bis 2007 von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wurde, hat Dr. Felix Römer im Militärarchiv Freiburg die überlieferten Dokumente sämtlicher Armeen, Korps, Divisionen und Regimenter, die von Juni 1941 bis Mai 1942 an der Ostfront eingesetzt wurden, systematisch ausgewertet. Er konnte dabei nicht nur den Nachweis einer flächendeckenden Weitergabe des Befehls bis auf die untersten Hierarchieebenen erbringen, sondern auch die Art und Weise der Durchführung des Befehls vor Ort und für viele Einheiten sogar detaillierte statistische Vollzugszahlen belegen. In einem Interview haben wir mit Dr. Römer über seine Ergebnisse gesprochen.

Interview mit Dr. Felix Römer

Dr. Felix Römer

[Bildquelle:

James Sutherland

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Gerda Henkel Stiftung (GHS): Herr Dr. Römer, der Kommissarbefehl wurde in der Geschichtswissenschaft bereits seit Ende des Zweiten Weltkriegs oft thematisiert. Wie kamen Sie dazu, ihn in das Zentrum Ihrer Untersuchung zu stellen? Wo haben Sie Defizite gesehen und wie lautete Ihre Fragestellung?

Dr. Römer: Inspiriert wurde ich zunächst von der wissenschaftlichen Literatur zum Krieg an der Ostfront, die mein Interesse an dem Thema schon als Student geweckt hat. Dann kam das Thema bei den Recherchen für meine Magisterarbeit in meinem Blick, als ich ins Bundesarchiv nach Freiburg reiste, um Akten von der Ostfront einzusehen. Ich bin mit einer recht vagen Fragestellung nach Freiburg gereist und wollte mich von den Quellen inspirieren lassen, und dann fielen mir beim Lesen der deutschen Akten einige Ungereimtheiten bei den Meldungen über den Kommissarbefehl auf. Als ich mich näher mit dem Thema Kommissarbefehl befasste, wurde schnell klar, dass hier noch eine Forschungslücke klaffte: Obwohl der Kommissarbefehl in Erinnerung und Wissenschaft seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielte, hatten Historiker immer nur stichprobenweise untersucht, ob er von den deutschen Truppen an der Ostfront wirklich befolgt wurde. Mein Ziel war es deshalb, die erste flächendeckende Analyse über die Umsetzung des Kommissarbefehls an der Ostfront zu erarbeiten.

Vermutlich einzige Bildquelle einer bevorstehenden Erschießung

[Bildquelle:

Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst

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GHS: Sie haben für Ihre Doktorarbeit umfangreiche Quellenbestände ausgewertet. Wie sind Sie vorgegangen und wo gab es eventuell Probleme? Wie war es für Sie, diese Dokumente in den Händen zu halten?

Dr. Römer: Die größte Herausforderung war die schiere Masse der Akten, die ich durchsehen musste, um dem Anspruch gerecht zu werden, eine wirklich lückenlose Analyse zu erarbeiten. Der erste Schritt war, herauszufinden, an welchem Ort man suchen musste. Dabei zeigte sich schnell, dass die Angelegenheit Kommissarbefehl bei den deutschen Truppen an der Ostfront immer von derselben Stabsabteilung bearbeitet wurde, den sogenannten Ic-Abteilungen, die in den Stäben ansonsten vor allem für die Feindaufklärung zuständig waren. Folglich musste ich die Akten dieser Stabsabteilungen von sämtlichen Kommandobehörden auf allen Hierarchieebenen des an der Ostfront eingesetzten Heeres durchforsten – also bei rund 150 Divisionen, Korps und Armeen. Daneben habe ich noch einige andere Provenienzen mit durchgesehen. Für das alles habe ich insgesamt mehr als eineinhalb Jahre täglicher Arbeit im Freiburger Bundesarchiv benötigt. Das einzige Problem dabei war, bei dem großen Aktenberg nicht zu verzweifeln, sondern geduldig einen Schritt nach dem anderen zu machen. Die Akten in den Händen zu halten und immer das Gefühl zu haben, neue Quellen entdecken zu können, war dabei eine große Motivation.

Russland, Süd, Abführen von Gefangenen

[Bildquelle:

Bundesarchiv, Bild 101I-020-1272-21 / Kipper / CC-BY-SA 3.0

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GHS: Sie zeichnen die Weitergabe und Ausführung des Kommissarbefehls sehr detailliert über alle Truppenteile hinweg nach. Lassen sich trotz dieses hohen Grades an Detailliertheit generalisierbare Aussagen tätigen?

Dr. Römer: Generell kann man sagen, dass die meisten Stäbe den Kommissarbefehl wie vorgesehen an ihre Truppen bekannt gegeben haben, so dass der Befehl folglich auch von den meisten Verbänden umgesetzt worden ist. Es gab zwar auch ein gewisses Bewusstsein dafür, dass es hier um eine heikle Angelegenheit ging. Viele Kommandeure sahen sich veranlasst, die völkerrechtswidrigen Maßnahmen vor ihren Untergebenen zu begründen, und manche Stäbe versuchten auch, das Thema aus ihren Akten herauszuhalten oder mit Tarnsprache zu bemänteln. Stärker waren aber die weit verbreiteten anti-bolschewistischen Feindbilder. Viele hielten die Sowjetunion für das Reich des Bösen und die Kommissare für Stalins Vorkämpfer und Hassprediger. Man muss sich das so vorstellen, dass man die Politoffiziere der Roten Armee gewissermaßen so sah, wie man heute die Anführer der Taliban oder IS-Kämpfer sehen würde. Außerdem glaubte man, dass man mit dem Erschießen der Kommissare die Korsettstangen der Roten Armee beseitigen könne, doch das stellte sich als groteske Fehleinschätzung heraus. Die sowjetischen Truppen leisteten nur noch stärkeren Widerstand, zumal die Deutschen vor allem in der Anfangsphase des Krieges oft auch viele einfache Rotarmisten erschossen. Seit Herbst 1941 plädierten manche Frontkommandeure dafür, den kontraproduktiven Kommissarbefehl auszusetzen, und im Frühjahr 1942 hob Hitler den Befehl schließlich auf. Bis dahin hatte der Kommissarbefehl ganz wesentlich zur Radikalisierung der Kriegführung und zur Entgrenzung der Gewalt an der Ostfront beigetragen.

Russland-Süd, russische Kriegsgefangene

[Bildquelle:

Bundesarchiv, Bild 101I-217-0498-38 / Dieck / CC-BY-SA 3.0

]

GHS: Inwieweit ist Ihre Studie auch ein Ausdruck der Neubewertung der NS-Vergangenheit nach der politischen Wende von 1989 (Stichwort: Wehrmachtsausstellung)? Welche Reaktionen haben Ihre Ergebnisse hervorgerufen?

Dr. Römer: Natürlich sind Historiker und ihre Arbeiten immer zeit- und standortgebunden, und meine Studie gehört fraglos in den Kontext der neuen Welle von Studien über die Wehrmacht und ihre Kriegführung, die seit den 1990ern in der Bundesrepublik entstanden sind. Meine Doktorarbeit gehörte dabei freilich eher zur zweiten Welle, denn als die zweite Wehrmachtsausstellung eröffnet wurde, war ich noch Student, und es waren die Studien der 1990er und frühen 2000er Jahre, die mich dazu anregten, mich selbst wissenschaftlich mit dem Thema zu befassen. Als mein Buch zum Kommissarbefehl im Jahr 2008 erschien, war die größte Aufregung dann auch schon abgeklungen. Es bestand weiterhin ein großes Interesse in Medien und Öffentlichkeit, doch war die Zeit der Anfeindungen und Emotionen vorbei – man merkte, dass gewisse Erkenntnisse mittlerweile Eingang gefunden hatten und nicht mehr öffentlich angezweifelt werden konnten. Mit meiner Studie zum Kommissarbefehl konnte ich dennoch eine wichtige Lücke schließen, denn das Thema war auch in den Debatten rund um die Wehrmachtsausstellungen weiterhin umstritten geblieben.

GHS: Die Gerda Henkel Stiftung hat Ihr Projekt mit einem Promotionsstipendium gefördert. Wie kam der Kontakt zur Stiftung ursprünglich zustande? Wie haben Sie die Zeit als Doktorand erlebt und wie ging es danach weiter?

Dr. Römer: Auf die Fördermöglichkeiten bei der Gerda Henkel Stiftung haben mich meine akademischen Lehrer an der Universität Kiel aufmerksam gemacht, und die Förderung der Stiftung hat es mir ermöglicht, mich ganz auf meine Forschungsarbeit zu konzentrieren. Als sich im Verlauf des Projekts dann zeigte, dass die Archivarbeiten noch wesentlich länger dauern würden, als zunächst absehbar war, hat die Stiftung mein Stipendium sogar noch verlängert. Bis heute fühle ich mich der Stiftung sehr verbunden, zumal ich in meiner Postdoc-Zeit erneut mit der Stiftung zusammengearbeitet habe. Unser Mainzer Forschungsprojekt zu den abgehörten Gesprächen deutscher Kriegsgefangener in alliierten Lagern wurde neben der Fritz Thyssen Stiftung auch von der Gerda Henkel Stiftung gefördert. Und 2011 hat die Stiftung auch ein weiteres Forschungsprojekt von mir gefördert, zu dem im nächsten Jahr ein neues Buch erscheinen wird. Die Gerda Henkel Stiftung hat in meiner Laufbahn offensichtlich eine wichtige Rolle gespielt!

Projektinformationen

Projekttitel „Besondere Maßnahmen“. Weitergabe, Ausführung und Akzeptanz des Kommissarbefehls im Ostheer 1941/42
Stipendiat   

Dr. Felix Römer

Institution Universität Kiel
Fachbereich Geschichte

Karte

Projektort
   
Projektleitung
Dr. Felix Römer

Titelbild: „Richtlinien für die Behandlung politscher Kommissare“

[Bildquelle:

Gemeinfrei / Wikimedia Commons

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